Berufwahlportfolio
Kennen Sie Folgendes? Wenn Sie abends den Tag noch einmal Revue passieren lassen, so wird Ihnen vermutlich so manches deutlich. Würden Sie zu Ihrem Tag gefragt werden, wür-den Sie vermutlich gar nicht alles erzählen, jedoch das, was für Sie von Bedeutung ist. Wie war das? Welche Aufgaben habe ich erledigt? Welche schönen Momente gab es? Worüber habe ich mich geärgert? Was habe ich gelernt? Was sind meine nächsten Schritte? Und so weiter.
Auf diese Weise transferieren Sie die Erlebnisse des Tages in explizit Beschreibbares über sich und Ihren Weltbezug. Genau dies ermöglichen auch Portfolios als Maßnahme der Beruflichen Orientierung: Beobachtungen, Berichte, Beschreibungen und Reflexionen werden zu einer Sammlung zusammengetragen.
Was sich genau hinter der Portfolio-Arbeit im Rahmen Beruflicher Orientierung verbirgt, welche pädagogischen Ziele damit verbunden sind, wie sie in der schulischen Beruflichen Orien-tierung praktisch umgesetzt werden kann u.v.m., erfahren Sie hier!
Ein Berufswahlportfolio ist eine Sammlung von Dokumenten, die die individuelle Entwicklung von Jugendlichen in ihrem Berufswahlprozess widerspiegelt. Sie bestehen meist aus einem prozess- und produktorientierten Teil. Es wird also unterschieden zwischen …
• prozessorientierten Dokumenten, also Dokumenten aus der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung konkreter BO-Maßnahmen, z.B. ausgefüllte Aufgabenblätter, Checklisten, Erfahrungsberichte und Reflexionen.
• produktorientierten Dokumenten, bspw. Qualifikationsnachweisen, Zeugnissen, Teilnahme- und Praktikumsbestätigungen, Zertifikaten und Testergebnissen.
Mit der Dokumentensammlung ist der methodische Ansatz der Portfolio-Arbeit verbunden.
Grundsätzlich können Portfolios sowohl in analoger als auch in digitaler Form geführt werden. Eines der bekanntesten Berufswahlportfolios ist der „Berufswahlpass“, der im Rahmen eines BMBF-Projektes Anfang der 2000er Jahre entwickelt wurde. Auf der Webseite der Bundesarbeitsgemeinschaft Berufswahlpass findet man eine Reihe von Informationen zu diesem Instrument sowie Bestell- und Down-loadmöglichkeiten.
Etliche Schulen haben auch schuleigene Formen eines Berufswahlportfolios aufgebaut und hier einen besonderen Fokus auf die BO-Angebote der Schule gelegt. Auch das Anlegen eines „Mission ICH“-Ordners für jede:n Schüler:in ist denkbar und entspricht dem Portfolio-Gedanken. In Planung und Entwicklung befindet sich ein digitales Berufswahlportfolio, welches die Erfahrungen aus dem Bundesland Bremen (furtureBOx) und „Mission ICH“ verbindet. Wenn Sie Interesse haben, sich an der Entwicklung zu beteiligen, melden Sie sich gerne hier.
Ein Berufswahlportfolio übernimmt – vorausgesetzt, es wird kontinuierlich angeleitet und genutzt – eine Begleitfunktion im gesamten Berufsorientierungsprozess. Es darüber hinaus kann es weitere Funktionen erfüllen: u.a. Reflexions-, Planungs-, Dokumentations- und Präsentationsfunktion (Brüggemann, 2017, S. 199). Eine Türöffner-Funktion erhalten Portfolios, wenn sie bspw. als Anlass bzw. Grundlage für Gespräche dienen (Deeken, 2008).
Berufswahl-Portfolios bzw. Teile darin können darüber hinaus auf unterschiedliche Schwerpunkte ausgerichtet sein:
• das Bewerbungsportfolio (In den Bewerbungsmappen für Kunsthochschulen liegen die Wurzeln der Portfolio-Arbeit.)
• das Talentportfolio
• das Projektportfolio u.a.m.
Die Verwaltungsvorschrift Beruflichen Orientierung an öffentlichen allgemein bildenden und beruflichen Schulen des Landes Mecklenburg-Vorpommern (2021) beschreibt in 3.3 zum Stichwort Portfolioinstrument, dass …
• mit den Schüler:innen nichtgymnasialer Bildungsgänge ab der 7. Jgst. verbindlich mit einem Portfolioinstrument gearbeitet wird,
• mit Hilfe des Portfolioinstrumentes die Schritte und Erfahrungen der Schüler:innen in der Beruflichen Orientierung dokumentiert und fortentwickelt werden,
• es unter Anleitung der Lehrkraft des Faches „Arbeit-Wirtschaft-Technik“ oder der Lehrkraft für Berufliche Orientierung geführt und
• in allen Unterrichtsfächern genutzt wird,
• die Information der Erziehungsberechtigten zur Portfolioarbeit in einer gemeinsamen Veranstaltung von Schule und Berufsberatung erfolgt.
„Der Portfolioansatz fördert eine neue ganzheitliche und vernetzte Lernkultur. Er dient dem Aufbau von Handlungskompetenzen im Berufswahlprozess – also der systematischen Verknüpfung von Fach-, Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz.“ (vgl. Erpenbeck & Heyse, 1999)
Jugendliche …
… beobachten und reflektieren ihre eigene Entwicklung (methodische Funktion):
Wichtige Elemente der Portfolio-Arbeit sind die Beobachtung und Reflexion. Eigene Lern- und Entwicklungsprozesse wahrzunehmen, sie als relevant zu erleben, sie zu beurteilen, ist eine äußerst komplexe Aufgabe. Erforderlich sind Fähigkeiten, die sukzessive erlernt und gefestigt werden sollten, da sie sowohl für den Berufswahlprozess, aber auch für viele weitere Lebensbereiche essentiell sind.
… machen sich ihre Stärken und Interessen bewusst (Reflexionsfunktion):
Schulnoten bilden nicht alle Kompetenzen und Interessen ab, die in der Entwicklung eines eigenen berufs- und zukunftsbezogenen Stärken- und Interessenprofils relevant sind. Berufsorientierungsmaßnahmen hingegen zielen in ihrem Kern nicht auf leistungsbezogene Ergebnisse ab. Sie ermöglichen vielmehr persönliche Kontakte, Erlebnisse und Gelegenheiten, sich mit sich den eigenen Lebensentwürfen sowie den Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auseinanderzusetzen.
Werden (Selbst-)Beobachtungs- und Reflexionsprozesse gut vorbereitet, angeleitet und begleitet, ermöglichen sie Jugendlichen Selbstwirksamkeitserfahrungen und steigern ihre Motivation für den und weitere Orientierungsprozesse.
… sammeln und strukturieren persönliche Unterlagen des Berufsorientierungsprozesses (Dokumentations- und Präsentationsfunktion):
Jugendliche beginnen ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie sie von potenziellen Ausbilder:innen etc. wahrgenommen werden wollen. Sie lernen, aussagekräftige Informationen, Nachweise und Zertifikate zu erbitten, zu sammeln und zu systematisieren, welche Auskunft über ihre individuellen Stärken und Einsatzpotenziale geben.
… agieren eigeninitiativ, selbstbestimmt und selbstorientiert (Planungs- und Orientierungsfunktion):
Durch die Portfolioarbeit wird das selbstbestimmte Lernen unterstützt. Die Sichtbarkeit dokumentierter Erlebnisse unterstützt Jugendliche dabei zu lernen, Erlebnisse und Ergebnisse zu reflektieren, daraus nächste Schritte abzuleiten, sich selbst Ziele zu setzen, deren Umsetzung zu planen und diese eigenverantwortlich voranzutreiben. Sie entwickeln Orientierungskompetenz (vgl. Häcker, 2008).
Darüber hinaus zielt der Berufswahlpass ebenfalls darauf ab, den am Berufswahlprozess beteiligten Fachpersonen eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu bieten. So sollen Schule, Eltern und Berufsberater:innen besser miteinander vernetzt werden.
Für alle Arten von Portfolioarbeit gelten die Prinzipien der „Kommunikation, Transparenz und Partizipation“ (vgl. Häcker 2006, S. 37). Pädagogische Wirkung entfaltet der Einsatz des Portfolios dann, wenn es nicht nur als Sammlung von Leistungsnachweisen, sondern als Teil eines förder- und reflexionsorientierten Unterrichts verstanden wird, der ausdrücklich auf die Förderung von Stärken und Talenten der Lernenden ausgelegt ist.
Ist die Selbst- und Fremdbeurteilung ein integrales Prinzip der Portfolio-Arbeit, so stehen Zertifikaten, Nachweisen und weiteren Rückmeldungen anderer (Fremdbeurteilungen) eigenen Beobachtungen, Reflexionen und Beurteilungen (Selbstbeurteilung) gegenüber. Diese Gegenüberstellung trägt insofern hohen Aufforderungscharakter in sich, als dass sie Jugendliche als Grundlage dafür dient, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven transparent zu machen und nächste Schritte zu formulieren und zu kommunizieren, Zielstellungen zu konkretisieren, zu variieren bzw. ggf. zu korrigieren und insgesamt in den Austausch zu treten.
So trägt die Portfolio-Arbeit in Verbindung mit der Erkundung der Arbeits- und Berufswelt und Bandbreite beruflicher Bildungswege ein wesentliches Potenzial für die schrittweise und vor allem realitätsbezogene Konkretisierung von berufsbezogenen Lebensplänen in sich.
Die Portfolio-Arbeit läuft weder „nebenher“ noch ist sie ein „Selbstläufer“. Vielmehr müssen die Schüler:innen in diese Arbeit eingeführt und darin begleitet werden. Es bedarf Zeiträume im Unterricht, in denen die Schüler:innen – z.B. in der Vor- oder Nachbereitung von BO-Angeboten – mit ihren Portfolios arbeiten können.
Erstellung der Sammlung: Bei sämtlichen Dokumenten, die im Rahmen der BO entstehen, stellen sich die Jugendlichen die Frage, ob und wenn ja, an welcher Stelle des Portfolios diese eingeheftet (analog) bzw. abgelegt (digital) werden. Hierfür muss die Zuordnung der Dokumente in die Struktur des Portfolios sicher bekannt sein bzw. angeleitet und begleitet werden.
Arbeit mit der Sammlung: Darüber hinaus sind regelmäßig begleitete Zeiten erforderlich, wenn es darum geht, mit der Sammlung selbst zu arbeiten. Stärken und Interessen wie auch Präferenzen für Sozialformen, Berufsbereiche und Arbeitsformen erhalten ein besonderes Gewicht, wenn sie mehrfach in der Dokumentensammlung sichtbar werden. Dies wird erst ersichtlich, wenn das Portfolio als Ganzes Gegenstand der Beschäftigung wird.
Hierbei wird auch erforderlich sein, dass das Portfolio geordnet und ggf. einzelne Dokumente nachbereitet werden müssen. Dieser Schritt bedarf Zeit, Anleitung und Begleitung. Insbesondere vor Zäsuren wie Bewerbungen, gezielten Beratungsgesprächen, Elterngesprächen oder am Schuljahresende bietet es sich an, hierfür Angebote vorzuhalten.
Wesentlich bei der Portfolio-Arbeit ist es, dass eindeutig die Jugendlichen die Akteur:innen sind, die alle Entscheidungen über ihr Portfolio treffen. Lehrkräfte sind hier im Unterschied zum herkömmlichen Unterricht eindeutig in einer begleitenden und beratenden, interessiert nachfragenden Haltung bzw. Rolle aktiv. Nicht ein Lehrziel der Lehrkraft, sondern der individuelle Entwicklungsmoment i.S. des Kompetenzniveaus des einzelnen Jugendlichen stellt den Ausgangs- und Mittelpunkt im Begleitungsprozess dar. Lernprozesse aus einer solchen Haltung heraus anzuregen, benötigt Zeit.
(vgl. Ryter, 2020, S. 401)
Besondere Schwerpunkte bzw. Aspekte
Stellen Berufswahlportfolios persönliche Dokumente der Jugendlichen dar, so ist ihre Aufbewahrung in den Blick zu nehmen. Auf der einen Seite sind sie vor dem Zugriff Anderer angemessen zu schützen. Auf der anderen Seite sollen sie jederzeit von den Jugendlichen eingesehen bzw. genutzt werden können.
Eine Aufbewahrung zu Hause hat in vielen Schulen zu der Erfahrung geführt, dass sie dann doch nicht mitgebracht werden. Dies ist ohnehin herausfordernd, handelt es sich doch i.d.R. um einen sperrigen A4-Ordner, der viel Platz einnimmt.
Eine Aufbewahrung im Klassenraum birgt das Risiko des Zugriffs durch Andere. Werden sie in anderen schulischen Räumen aufbewahrt, ist wiederum die permanente und auch spontane Zugänglichkeit eingeschränkt. Zudem sind hierbei die Transporte in die jeweiligen Unterrichtsräume unverhältnismäßig aufwendig.
Ein Dilemma wird deutlich, dass sich (nur) pädagogisch lösen lässt und zwar aus guten Gründen. Eine Regel, nicht ungefragt Einblicke in Portfolios anderer zu nehmen, ließe sich einführen. Werden Jugendliche dafür sensibilisiert, dass es sich bei einem Portfolio um persönliche, also personenbezogene Arbeitsmittel handelt, so darf von einer breiten Akzeptanz ausgegangen werden, wie sie auch für die weiteren persönlichen Arbeitsmittel beobachtet werden kann.
Im Übrigen sind selbst im Kindergarten die Portfolios i.d.R. für alle Kinder frei zugänglich, um ein spontanes Betrachten und Kommunizieren darüber als pädagogisch gewünschten Effekt zu ermöglichen.
Da Eltern ein hoher Stellenwert im Berufswahlprozess ihrer Kinder zugeschrieben wird , erweist sich ein Berufswahlportfolio als eine gute Gesprächsgrundlage (Türöffner-Funktion ). Im Idealfall können Begleitprozesse durch Elternhäuser und Schule zusammengeführt, evtl. Zielkonflikte aufgelöst und gemeinsame Ziele gesteckt werden.
Die Portfolio-Arbeit kann einen zielgruppenspezifisch fördernden bzw. ressourcenorientierten Charakter erhalten.
Aspekte geschlechtersensibler BO, die Ausrichtung auf besondere biografische Erfahrungen wie Flucht, Vertreibung, Mehrsprachigkeit, sozioökonomische oder auch bildungsbezogene Rahmenbedingungen, private und familiäre Netzwerke wie auch außerschulisch erworbene Kompetenzen können im Portfolio transparent und für die Kommunikation zugänglich gemacht werden, wenn diese Angebote proaktiv mit der Portfolioarbeit verknüpft werden.
Die Erarbeitung von Sprachlern-, Gruppen- oder Freizeit-Biografien oder auch eine eigene Netzwerk-Analyse sind hier beispielhaft zu nennen, die perspektivisch im Portfolio ihr Medium und zugleich ihr Dokumentationsformat erhalten.
Wird hingegen nur mündlich gearbeitet oder sieht ein diesbezügliches Angebot externer Partner keine Dokumentation individueller Erkenntnisse vor, ist seitens der Schule dafür Sorge zu tragen, dass eine Dokumentation für das Portfolio sichergestellt wird. Alternativ wird es erforderlich, die erlangten individuellen Erfahrungen und Erkenntnisse durch ein nachgehendes Reflexions- und Dokumentationsangebot für das Portfolio zu sichern.
Verwendete und weiterführende Literatur
Brüggemann, T. et al (2017): Der Berufswahlpass auf dem Prüfstand. Erste Einblicke in den Berufswahlpass-Relaunch-Prozess, in: T. Brüggemann, K. Driesel-Lange & C. Weyer (Hrsg.): Instrumente zur Berufsorientierung. Pädagogische Praxis im wissenschaftlichen Diskurs (S. 199–222), Münster: Waxmann.
Bertelsmann Stiftung, SCHULEWIRTSCHAFT Deutschland, MTO Psychologische Forschung und Beratung GmbH (Hrsg.) (2024): Leitfaden Berufliche Orientierung. Praxishandbuch zur qualitätszentrierten Ausbildungs- und Studienorientierung an Schulen, Gütersloh: Verlag Bertelsmannstiftung. S. 73 ff
Deeken, S. (2008): Lernportfolios in der Berufsorientierung. In: G. E. Famulla (Hrsg.): Berufsorientierung als Prozess. Persönlichkeit fördern, Schule entwickeln, Übergänge sichern. Ergebnisse aus dem Programm „Schule – Wirtschaft/Arbeitsleben“ (S. 179 – 203) Baltmannsweiler: Schneider.
Erpenbeck, J. & Heyse, V. (1999): Die Kompetenzbiographie. Strategien der Kompetenz-entwicklung durch selbstorganisiertes Lernen und multimediale Kommunikation. Münster, Westfalen: Waxman.
Häcker, T. (2008): Vielfalt der Portfoliobegriffe. Annäherung an ein schwer fassbares Konzept. In: I. Brunner, T. Häcker & A. Winter (Hrsg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte – Anregungen – Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung (S. 33–39), Seelze-Velber: Kallmeyer.
Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur (2021): Berufliche Orientierung an öffentlichen allgemein bildenden und beruflichen Schulen des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Unter: https://berufswahlpass.de/lehrkraefte/ (Zugriff: 04.10.2024)
Ryter, A. (2020): Portfoliokonzepte in der Berufsorientierung. Chancen und Herausforderungen, in: T. Brüggemann & S. Rahn (Hrsg.): Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Münster: Waxmann, S. 398–404
Verwaltungsvorschrift Beruflichen Orientierung an öffentlichen allgemein bildenden und beruflichen Schulen des Landes Mecklenburg-Vorpommern (2021). Unter: https://www.boje-mv.de/BO_in_Landesverordnungen_M-V (Zugriff 04.10.2024)